Winfried Christian Siegmund Seidel wurde am 30. September 1977 in Gießen als zweites Kind der Eheleute Rosemarie und Eberhard Seidel geboren. Behütet und gesund am Fuß des Dünsbergs in Biebertal aufgewachsen, hatte er glückliche unbeschwerte Kindheitsjahre in Elternhaus, Kindergarten und Schule. Winfried war ein außergewöhnlich fröhliches Kind und lachte viel. Bemerkenswert und auffällig war seine blühende Fantasiebegabung, die sich im kindlichen Theaterspiel in vielerlei Verkleidungen auslebte. Neben dem bekannten Personal des Puppentheaters waren das viele von ihm erfundene und so auch nur ihm bekannte Fantasiegestalten.
Nach seinen vier Grundschuljahren in Rodheim (Ortsteil von Biebertal) besuchte Winfried ab dem fünften Schuljahr vom Herbst 1989 bis zu seinem zehnten Schuljahr im Sommer 1994 die August-Hermann-Francke Schule in Gießen. Das kindliche Theaterspiel von daheim fand hier seine schulische Fortsetzung durch den Heranwachsenden. „Winfried leitete mit großem Engagement eine Theatergruppe und initiierte selbstständig eine Theateraufführung“, (so ein Vermerk auf dem Zeugnis der zehnten Klasse). Das elfte Schuljahr absolvierte Winfried – als seine (von ihm gewünschte) „Schulzeit im überseeischen Ausland“ – an der Sherwood Secondary School in Hamilton / Ontario (Kanada). Als Jahrgangsbester von 180 Schülerinnen und Schülern erhielt er dort das (immer nur einmal vergebene) „Sherwood Students‘ Council Honour Diploma“. Zurückgekehrt trat er im Herbst 1995 in das zwölfte Schuljahr der Herderschule in Gießen ein, an der er im Sommer 1997 nach seinem dreizehnten Schuljahr die Reifeprüfung ablegte. Davor hatte er sich freilich im Theaterspiel noch einmal gesteigert: Vor über hundert Zuschauern in einer außerschulischen Kulturhalle mit Bühne gab die Theaterspielgruppe der Schule den eingebildeten Kranken von Molière, mit Winfried in der Hauptrolle.
Anschließend studierte Winfried an der Eberhard Karls Universität zu Tübingen Geschichte und Anglistik für das höhere Lehramt. Nach der ersten Staatsprüfung mit Einschluss des Großen Latinums dort (2001) wechselte er für die zweite (2005) an die Universität Leipzig. Mit der Absicht, für sein Berufsleben in die hessische Heimat zurückzukehren, befasste sich Winfried im Fach Geschichte viel mit der Landesgeschichte Hessens. An beiden Studienorten war Winfried begeisterter Chorsänger in seiner Kirchgemeinde. In Wetzlar war er Mitglied des Evangelischen Domchores.
Nach seinem Referendariat an der Freiherr-vom-Stein-Schule in Wetzlar trat er 2007 dort auch seine erste Stelle als „Studienrat zur Anstellung“ für Geschichte und Englisch an. Beide Fächer unterrichtete er auch an der benachbarten Goetheschule in Wetzlar. Aus dem Theaterspielen wurde jetzt beruflicher Ernst. Winfried führte die Arbeitsgemeinschaft Schultheater und erwarb sich nach dreijähriger Lehrerfortbildung (Abschluss mit Bestnote) 2011 neben seinen Fächern Geschichte und Englisch mit „Darstellendes Spiel“ ein drittes Unterrichtsfach.
In seinem ersten Fach Geschichte hatte Winfried schon in seiner Leipziger Studienzeit tatkräftig ein Promotionsprojekt zum Dr. phil. im Themenbereich „Hessische Landesgeschichte“ in Angriff genommen. (Betreuer Prof. Dr. M. Rudersdorf). Nun publizierte er wissenschaftlich auch in seinem dritten Fach: „Darstellendes Spiel: Theater in der Schule?“ (Anm.).
War im Erscheinungsjahr des Handbuchs Kulturpädagogik 2013 sein Mitautor Winfried Seidel schon verstorben, so ist eine andere seiner Initiativen noch quicklebendig und wird das – nach dem Zeugnis von Winfrieds Freund und Klassenkameraden Kay Bourcarde – auch noch lange bleiben.
Gemeint ist die Initiierung und Etablierung eines „Literaturcafe‘“ genannten „Literaturzirkels“ durch Winfried an der Herderschule nach seiner Rückkehr aus Kanada. Ca. alle zwei Monate haben sich anfänglich drei bis vier, bald 12-15 und gelegentlich noch mehr junge Leute, alle ungefähr in Winfrieds Alter, meist freitags zu abendlicher Stunde versammelt. Versammlungsorte waren drei geräumige elterliche Wohnungen in gewissem Wechsel. Die ersten Zeit und auch später noch fanden die Zusammenkünfte gern in unserem Haus statt. Immer lasen einige Mitglieder Texte aus Belletristik (Prosa aber auch Lyrik) vor, die sie beeindruckt oder gar begeistert hatten. Auch philosophische und historische Texte kamen zum Vortrag. Nach ca. halbstündigen Vortragszeit je Text wurde diskutiert oder auch ein gegensätzliches „Koreferat“ gehalten. Als Hobbykoch wartete Winfried mit einer guten Bewirtung auf, bei der gute Weine nicht fehlten.
Während seiner Studienzeit in Tübingen und Leipzig hat Winfried auch dort „Literaturcafés“ mit seinen Kommilitonen etabliert.
Ein Zeichen für die beachtliche Lebenskraft des Literaturzirkels war es schon, dass nach Winfrieds Heimkehr aus Tübinger und Leipziger Studienzeiten, die Lesungen in Gießen wieder einsetzten. Die Plätze von weggezogenen Teilnehmern wurden bald von Tübinger Kommilitonen Winfrieds ersetzt, die es nach ihrem Studium beruflich in den Großraum Rhein-Main um Frankfurt verschlagen hatte.
Nach noch optimistischem Start in das Schuljahr 2012/13 erkrankte Winfried sehr plötzlich sehr schwer. Er verstarb zwei Wochen später – zehn Tage vor seinem 35. Geburtstag – am 20. September 2012 im Universitätsklinikum Gießen nach einer noch versuchten Notoperation.
Die Trauerfeier für Winfried fand unter großer Anteilnahme seiner Freunde, Kollegen und Schüler statt. Und schon beim Trauerbrot nahm ein Vorhaben Gestalt an: Einmal im Jahr, immer am Wochenende nächst Winfrieds Geburtstag am 30. September, will sich der Freundeskreis zum „Literaturcafé“ treffen. Das wurde bislang acht Mal bis 2019 treulich eingehalten. Wegen Corona musste das Treffen 2020 ausfallen. Damit aber sicher ist, dass es weitergeht, hat Dr. Kay Bourcarde für den 2. Oktober 2021 in sein Haus nach Gießen eingeladen.